Berlin, 03.11.2021. Auf der Tagung „10 Jahre Selbstenttarnung des ‚NSU‘ – wo stehen wir heute im Umgang mit rechter Gewalt?“ unter Schirmherrschaft des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Michael Müller, kamen am heutigen Mittwoch Vertreter:innen der Zivilgesellschaft, von Betroffenenverbänden, aus der Berliner Justiz, den Ermittlungsbehörden und Senatsverwaltungen sowie weitere Expert:innen zusammen. Sie identifizierten Defizite im staatlichen Umgang mit Hassgewalt und leiteten konkrete Forderungen daraus ab.
Nach der Selbstenttarnung des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) am 4. November vor zehn Jahren wurden in Politik und Gesellschaft Stimmen nach einer umfassenden Erneuerung des staatlichen Umgangs mit Hassgewalt laut. Der 11-Punkte Plan „zur internen Vorbeugung und Bekämpfung von möglichen extremistischen Tendenzen“ der Berliner Polizei, die Einrichtung einer Zentralstelle Hassgewalt bei der Staatsanwaltschaft und das Landesantidiskriminierungsgesetz sind nur einige Maßnahmen, die seitdem zur Bekämpfung von Hassgewalt und Diskriminierung in Berlin umgesetzt wurden. Auf der Tagung der Amadeu Antonio Stiftung sprachen Vertreter:innen der Betroffenenarbeit, der Zivilgesellschaft, aus Ermittlungsbehörden und Justiz darüber, welche Wirkung diese Maßnahmen erzielen und wo sich weiterhin Leerstellen ergeben.
Veränderungen im staatlichen Umgang mit Hassgewalt nötig
„Die Erfahrungen der Betroffenen des NSU mit den Ermittlungsbehörden haben gezeigt, dass es weitreichende strukturelle Veränderungen im staatlichen Umgang mit Hassgewalt braucht. Betroffene müssen besser unterstützt und ihre Perspektiven müssen ernst genommen und konsequent berücksichtigt werden. Diese Veränderungen lassen sich nur durch einen stetigen Austausch zwischen den Behörden, der Zivilgesellschaft und den Betroffenenverbänden erreichen“, sagt Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung.
Berlin ist, das wurde auf der Tagung deutlich, in den letzten Jahren wichtige Schritte in der Bekämpfung von Hassgewalt gegangen. Margarete Koppers, Generalstaatsanwältin in Berlin, erklärt: „Die Staatsanwaltschaften in Berlin haben mit der Zentralstelle Hasskriminalität und der zunehmenden Vernetzung mit externen Akteur:innen eine sehr gute Grundlage gelegt, um Hasskriminalität besser zu begegnen. Jetzt müssen wir den Weg der Sensibilisierung, Fortbildung, Vernetzung und Reflektion kontinuierlich weitergehen. Dafür braucht es Zeit, Geduld, aber auch ausreichende personelle Ressourcen. Deshalb wäre es sehr hilfreich, wenn die Bekämpfung der Hasskriminalität in der neuen Legislatur politisch erneut zu einem Schwerpunktthema gemacht und uns vom Haushaltsgesetzgeber die nötigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden würden.“
Betroffene wenden sich kaum an staatliche Stellen, weil Vertrauen fehlt
Die Zahl rechter, menschenverachtender Gewalttaten in der Hauptstadt ist dennoch auf einem konstant hohen Niveau, allein 2020 dokumentierte die Opferberatungsstelle ReachOut 357 rechte Angriffe.
„Es ist zu begrüßen, dass staatliche Stellen dem Thema Hassgewalt mehr Aufmerksamkeit schenken und etwa die Zentralstelle für Prävention die einzelnen Phänomene näher in den Blick nehmen will“, sagt Anja Reuss vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. „Es braucht vor allem in den Berliner Polizeibehörden mehr Wissen über Erscheinungsformen und Ausprägungen von Hassgewalt. Betroffene wenden sich kaum an staatliche Stellen, weil Vertrauen fehlt. Das muss hergestellt werden. Dazu gehört zum einen, dass die Vorurteilsstrukturen in der Polizei abgebaut und Polizist*innen mit rechtem Gedankengut konsequent aus dem Dienst entlassen werden, zum anderen aber auch, dass der strukturelle und institutionelle Rassismus endlich erkannt und überwunden wird“.
Stärkung der Betroffenenperspektiven in den Ermittlungen notwendig
Betroffene und Vertreter:innen aus der Betroffenenarbeit berichteten auf der Tagung, dass die Perspektive von Betroffenen in den Ermittlungen noch immer nicht ausreichend berücksichtigt werden. Dies sollte verbessert werden, indem die Angaben Betroffener zu den ideologischen Hintergründen der Tat verpflichtend in die Ermittlungen aufgenommen werden. Während Täter:innen bei Hassgewalttaten ein Interesse daran haben, ihr Tatmotiv zu verbergen, können Betroffene dieses häufig gut einschätzen.
Nach einem Tagesprogramm mit Berlinbezug kamen am Abend Betroffene der rechtsterroristischen Anschläge in Hanau, Halle und des NSU zu Wort. Auf den Podien sprachen u.a.: Margarete Koppers (Generalstaatsanwältin Berlin), Kriminaldirektor Wolfram Pemp (Antisemitismusbeauftragter der Polizei Berlin), Dr. Doris Liebscher (Leiterin der LADG-Ombudsstelle des Landes Berlin), Sigmount Königsberg (Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde Berlin) und Mehmet Daimagüler (Nebenklagevertreter im NSU-Prozess).
Die Tagung ist Teil des Projekts „Berlin steht an der Seite Betroffener rechter Gewalt“ der Amadeu Antonio Stiftung, das von der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung gefördert wird.
Über die Amadeu Antonio Stiftung:
Seit ihrer Gründung 1998 ist es das Ziel der Amadeu Antonio Stiftung, eine demokratische Zivilgesellschaft zu stärken, die sich konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet. Die gemeinnützige Stiftung steht unter der Schirmherrschaft von Wolfgang Thierse.